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Channel: Das geheime ABC oder Der Brockhaus von 1952
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K49 - Krankenhaus

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Krankenhaus. Seltsam, diese Illustration, sie paßt gar nicht in den Brockhaus-Style. In der 1944er-Ausgabe ist überhaupt keine Illustration dazu vorhanden. Mitte der Achtziger war ich Zivi in einem kleinen Krankenhaus in München. Das Gebäude sah deutlich mehr nach Brockhaus 1952 aus als dieses fast schon postmoderne Krankenhaus. Zu meiner Zeit dauerte der Zivildienst 20 lange Monate. Ich kam als ahnungsloser und hochnäsiger Abiturient in eine Abteilung, die von einer Franziskanerin geleitet wurde und deren Krankenschwestern fast ausnahmslos aus einer kleinen Gegend im Bayerischen Wald rekrutiert wurden. Ihr Bayerisch war zunächst so unverständlich, daß ich bei einer sechs Wochen lang dachte, sie sei Jugoslawin. Ich tat mich schwer beim Einleben . Erst mal war ich richtige Arbeit nicht gewöhnt, und hier hatte ich Schichtdienst mit Wochenendarbeit. Zweitens kannte ich Ekel nur aus dem Roman von Sartre. Hier lernte ich, wie vorsichtig man Mandeloperationen beim Aufstehen helfen muß, da sie viel Blut schlucken, ihnen davon schlecht wird und sie dich mit Blut vollkotzen. Mit viel Blut. Überhaupt lernte ich alles recht gut kennen, was aus Menschen so alles rauskommt. Es dauerte einige Zeit, bis mich die Schwesternhelferinnen aus dem Bayerischen Wald richtig hinbekommen haben. Sie hatten alle neun Jahre Volksschule gemacht und dann von ihren Eltern nach „Minge“ zu den Franziskanerinnen weggeben worden. Ich war der einzige männliche Pfleger im Krankenhaus, und war den prüden Nonnen hochwillkommen, um bei Männern Schamhaarrasuren vor Bauch-OPs durchzuführen. Mit einem offenen Rasiermesser. Beim erstenmal leitete mich die Nonne an. Erst Einpinseln, dann griff sie sich ein Einmaltuch, packte sich den Schwanz des Patienten und klappte das Messer auf. Der Mann hatte Todesangst. Jedenfalls hab ich meiner Zeit dort deutlich mehr Schwänze rasiert als mit Mädchen ausgegangen. - Ich pflegte eine Sekretärin von Franz Josef Strauß und lief H.G. Konsalik über den Weg. Ich ging mir Opa Reichelt spazieren, der einzige Mensch, den ich jemals kennenlernte, dem Adolf Hitler begegnet war.

Das Krankenhaus war so altmodisch, dass in die Bettwäsche der Stationsname eingestickt wurde. Lange Nachmittage habe ich verbracht, dort „2. Stock“ in Kissenbezüge, Laken und Bettbezüge zu sticken. Die gute Nachricht: wenn Ihr einen Stickjob habt, dann bin ich euer Mann. Die schlechte Nachricht: ich kann nur „2. Stock“. - Eine meiner Standardaufgaben war das Herunterfahren der Patienten in den OP-Bereich. Das dauerte nur ein paar Minuten, aber es war für jeden Patienten eine Situation extremer Anspannung. Frauen kommen damit übrigens wesentlich besser klar. Offenbar sind Frauen mutiger. Bei der Bundeswehr hätte ich eine Grundausbildung im Schußwaffengebrauch und LKW-Fahren gemacht. Hier bekam ich eine Grundausbildung über Schmerz, menschliches Leiden und Angst. Und auch über Sterben und Tod, obwohl es keine Intensivpflegestation war. Es hat mir nicht geschadet. Ich hab viel gelernt in dieser Zeit. Von den Schwestern aus dem Bayerischen Wald.

K52 - Kreuz, Kreuzigung

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Kreuz. Na klar, bei Kreuz hab ich dann auch einmal die Brockhausausgabe von 1944 herangezogen, und siehe da, dort gibt es ein Kreuzchen mehr:

Kreuz - Ausgabe von 1944


Was ich nicht wußte: es dauerte mehr als 400 Jahre, bevor das Kreuz als christlichen Symbol festgelegt wurde. Ich hätte gedacht, darauf wäre man früher gekommen. Und was hat man vorher gehabt? Einen Fisch? Einen Halbmond? – Das hier abgebildete Lothringer Kreuz ist übrigens korrekt dargestellt. Viel weiter verbreitet, aber falsch, ist eine Version mit unterschiedlich breiten Querbalken. Und warum falsch? Ja, weil man es mal wieder verschusselt und vergessen hat. Seltsam aber, dass es in der Version von 1944 „lothringisches Kreuz“ heißt, 1952 aber „Doppelkreuz“. Das lothringische Kreuz war nämlich das Symbol für den französischen Widerstand – dann wäre es doch logischer, man hätte 1944 die neutrale Bezeichnung „Doppelkreuz“ gewählt. - Angeblich soll der kleine schräge Balken beim russischen Kreuz das Fußbänkchen Jesu symbolisieren. Und es hat tatsächlich auch einen Namen, der auch bei der Kreuzigung illustriert ist: das Suppedaneum. Auch eines dieser Wörter, die man nicht jeden Tag braucht. - Das Hakenkreuz in der westlichen Welt hingegen stammt von den sog. Ariosophen vom Anfang des 20. Jahrhundert, die gewaltig einen Sprung in der Schüssel hatten. Was mir neu war: tatsächlich hat Hitler die Auswahl des Hakenkreuzes massiv beeinflußt. Er suchte nach einem “Symbol von großer plakatmäßiger Wirkung”. Es ist ein Schmierzettel von 1920 mit Entwürfen von ihm für dieses Symbol erhalten, die allesamt, bis auf das Hakenkreuz, eher skurril und bemitleidenswert sind. Allerdings gab es in der Prä-Nazi-Zeit durchaus noch anderswo Hakenkreuze: auf Buchcover von Rudyard Kipling, auf britischen Pfadfinderabzeichen, auf russischen (!) Banknoten und dann gab es noch die Edmonton Swastikas, einen kanadischen Frauen-Eishockeyverein mit markantem Brustabzeichen – ihr könnt es euch denken. Selten ist wohl ein Zeichen so dermaßen in die Scheiße geritten worden wie das an sich unschuldige Hakenkreuz. Es ist unbenutzbar geworden. Das gilt allerdings nur für westliche Hemisphäre. Für die Inder hingegen ist das rechtsgerichtete Hakenkreuz ein Talisman. Die Google-Bildersuche nach India und Swastika liefert auch eher Verstörendes. Vielleicht erinnert ihr euch auch noch an die beiden Inder, die so eine Art indischen Esprit-Shop aufgemacht hatten: „HITLER“ nannten sie ihren Laden, und das Hakenkreuz war ihr Markenlogo. Schließlich entschlossen sie sich zu einer Umbenennung, weil dauernd Leute anriefen und sich beschwerten, und das auch noch zu „odd hours.“ Ich konnte allerdings nicht herauskriegen, wie der Laden jetzt heißt. STALIN? POL POT? SCHALKE 04?      Vielleicht bedeutet H&M eigentlich auch Hitler & Mussolini. Nein, stimmt nicht.




Über die Suche nach dem wahren Kreuz Christi hab ich eine prima Geschichte. Aber die muß ich mir noch etwas verwahren. Vielleicht in einem neuen Blog. Es geht dann danbrownartig um die Suche nach dem echten Kreuz Christi. – Zur Kreuzigung steht im Koran etwas Interessantes (Sure 4:157): demnach haben Pontius Pilatus und seine doofen Schergen Jesus mit jemanden anderes verwechselt und den Falschen gekreuzigt. Wenn das stimmt, wäre das allerdings ein ziemliches Ding: seit 2000 Jahren beten wir nicht Jesus am Kreuz an, sondern den Pauschaltouristen Alfred Schulze aus Gelsenkirchen, der ihm ein bißchen ähnlich sieht. Und der echte Jesus hat sich verdrückt und klammheimlich als Trickbetrüger weitergemacht, mit dem Sohn- und Enkeltrick.

K34 – Kluppe, Klüver, Knallbonbon – Weihnachtsspezial

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So, wie letztes Jahr gibt es auch heuer ein Weihnachtsspezial. Ich hab mir dafür extra das weihnachtliche Knallbonbon aufgehoben, siehe nachher unten. Nach meinen Berechnungen werden wir auch nächstes Jahr noch gemeinsam verbringen, wenn weder ihr noch ich die Lust verlieren. Immerhin gibt es auch noch das Lemma „Krippe“.



Und noch ein Knallbonbon - Maike hat mir etwas ganz Wunderbares geschickt: eine kleine Fibel „Brockhaus über Brockhaus“. Diese Fibel war nicht für den freien Verkauf vorgesehen, sondern wurde an Vertreter und Buchhändler verteilt. Sie ist von 1958, und neben den großen Brockhäusern kommt auch unser Sprach-Brockhaus zu Ehren:

Brockhaus über Brockhaus, 1958


Toll. „Noch nie war ein so spröder Stoff so anschaulich und spannend in einem Abc dargestellt worden.“ Sie schreiben tatsächlich Abc! Den Ausführungen entnehme ich, daß die erste Ausgabe 1935 herauskam. Aus dieser Zeit stammen dann auch ein erheblicher Teil der Illustrationen. Vielleicht schenke ich mir nächstes Jahr mal eine Erstausgabe. Es heißt weiter im Text: „Die deutsche Muttersprache jedoch, der der Sprach-Brockhaus dient, ist viel ausdrucksvoller und so unbekannt, daß sich der Sprach-Brockhaus bald wie ein Roman mit immer neuer Handlung liest, wird er erstmal aufgeschlagen.“ Haha. Wenn ihr wüßtet. 60 Jahre später scannt ein Typ eure Bilder, bearbeitet sie mit Photoshop, stellt sie ins Internet und denkt sich Zeugs dazu aus. Ihr dachtet, im Jahr 2014 würden wir zum Mars fliegen und mit Lufttaxis zum Einkaufen fliegen. Quatsch. Wir bestellen bei amazon und hängen auf Facebook herum. „Ein umfassendes Wörterbuch der deutschen Sprache zu besitzen, sollte eigentlich in deutschen Landen zum guten Ton gehören. Die laufend notwendigen großen Neuauflagen und Neudrucke sind ein schönes Zeugnis dafür, daß wir diesem Ziel zustreben.“ Stimmt. Aber im Jahr 2014 werdet ihr das Neudrucken dann aufgeben. Weil die Leute nämlich ihr eigenes Lexikon geschrieben haben und ins Internet stellten. Würde man es ausdrucken, umfaßte die deutschsprachige Wikipedia übrigens 800 Bände. Da sind wir hier eher in einem tapferen kleinen gallischen Dorf. – Weil ihr mich so fleißig lest und anklickt, ist diese kleine, verträumte Seite übrigens auf Platz 4 der generischen Suchergebnisse bei Google für das Stichwort „Brockhaus“. Das finde ich schon recht ordentlich.

So, jetzt aber weiter im Betrieb:


 

Kluppe. Als Kind kramte ich gerne in den umfangreichen und nur minimal aufgeräumten Werkzeugschränken und –schubladen meines Vaters herum. Die meisten Werkzeuge offenbaren zumindest grob ihren Zweck und ihre Verwendung auf den ersten Blick. Die Familie der Zangen, die Sippe der Schraubenzieher, der Schwarm der Bohrer. Rätselhaft aber waren wir eine besondere Abisolierzange geblieben, und eben diese Schneidkluppe. Das Werkzeug ist ungefähr 20cm breit. Mit einer Schraube kann man Einsätze mit verschieden großen kleeblattförmigen Öffnungen einspannen. Aber warum? Dieses Kleeblatt paßt doch nirgendwo drauf? Und zum Ausmessen von irgendwetwas schien es sich auch nicht zu eignen, denn es gab nirgendwo eine Skala oder so etwas. Schließlich frage ich meinen Vater. Er erklärt mir, das sei ein Gewindeschneider und führt es mir auch vor. Seitdem habe ich keinen Gewindeschneider mehr gesehen, bis heute. Die Meßkluppe – das Wort habe ich noch nie gehört, ich kenne nur Schieblehren, aber es scheint so zu sein, daß Meßkluppen größer sind, bis zu einem Meter, etwa um Bäume zu messen.



Klüver. Wikipedia glaubt, der Mühlenklüver sei etwas völlig anderes, und zwar eine Welle zur Kraftübertragung, merkwürdigerweise ebenfalls bei Windmühlen. Da finde ich die Brockhaus-Variante, offenbar eine dreieckige Erweiterung des Mühlenflügels, logischer, weil sie ja auch viel besser zum Segel-Klüver paßt.


Knallbonbon. Ich glaube, ich habe nur ein einziges Mal so ein Ding in der Hand gehabt. Beim Auseinanderziehen machte es einen sachten Laut. Also kein Vergleich zu einem echten Chinaböller. In England und den Commonwealth-Staaten sind Christmas Cracker das große Ding. Man zieht zu zweit an jedem Ende, dann macht es Bumm, und dann fallen kleine Sachen raus, welche die Hersteller vorher reingetan haben, z.B. ein kleines Spielzeug, ein Papierhut oder ein Segensspruch. Sozusagen ein Ü-Ei ohne Schokolade, aber mit Bumm. Als Erfinder gilt der rührige Konditormeister Tom Smith aus London, der sie 1847 erfunden hat. Sein Sohn Walter war der erste, der lustigen Tüddelkram hineinpackte. Im Jahr 1900 wurden schon 13 Millionen verkauft. Eher zufälligerweise konzentrierte sich die gesamte Crackerindustrie in Norwich; zu Spitzenzeiten wurden hier 50 Millionen produziert. Leider kam es in den 80ern zu einem Niedergang der englischen Crackerindustrie. Wahrscheinlich ist Maggie Thatcher schuld, oder sie brauchten für den Falklandkrieg Knallbonbons, die anders konstruiert wurden. Der Markenname hat sich übrigens erhalten, es gibt nach wie vor Tom Smith Christmas Crackers, und zwar die Sorten Juvenile, Speciality, Mini, Traditional und Luxury. In letztere Abteilung fällt auch Chairman’s Choice Christmas Cracker: “Each cracker contains luxury contents such as a pen, bottle opener, key ring, mirror or a clock.” Immerhin kostet jeder 10$ das Stück. - Ich habe jetzt meine britische Kollegin Heidi angerufen. Sie versicherte mir, die Christmas crackers werden immer noch begeistert gekauft. Die billigste Variante kostet 70 Cent, aber es gibt auch bei Harrods welche für 50 € das Stück. Ob sie denn auch welche kauft, fragte ich. „Natürlich!“ antwortete sie sofort. Engländer haben auch bei unwahrscheinlichen und merkwürdigen Angelegenheiten oft eine Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die einem denken läßt: ja, anders geht es doch auch gar nicht. Ich werde mal in Berlin Christmas crackers suchen gehen. Im KaDeWe haben sie doch alles. Es ist überhaupt schön, wie üppig die Engländer ihr Weihnachten mit Traditionen auskleiden: Christmas Crackers, Mistletoe, Mince Pies. Allein für den Versand von Weihnachtskarten geben sie 164 Millionen £ aus. Einen erheblichen Teil ihres Bruttosozialproduktes verjuxen sie für Weihnachten. Glückliches Volk. 

 



So, das ist mein Weihnachtsbaum. Ich habe mir gedacht, ihn jedes Jahr zu Nikolaus aufzubauen. Das ist eine selbst ausgedachte Tradition. Jemand hat mir aber jetzt erzählt, die Italiener würden ihre Weihnachtsbäume am 8. Dezember schmücken. Da kann ich mich ja dranhängen. Albero di natale quattro stagioni. Ok, ab jetzt jedes Jahr 8. Dezember. – Jedes Jahr ist es ein harter Wettlauf zwischen dem Kauf neuer Dekoration und den Sachen, die ich beim Aufbauen kaputt mache (2 Kugeln). Neu ist die Spitze und eine zweite Lichterkette. Aufmerksame Fotoangucker werden bemerken, daß im Hintergrund kein Brockhaus steht, sondern eine Dudenserie. Ja, stimmt. Ich hab sie alle, seltsamerweise ohne Nr. 1, den Standardduden. Ich hab sogar Nr. 6 Aussprache, den man wirklich nicht braucht. Am tollsten ist natürlich Nr. 9, der Zweifelsfall-Duden. Rechts auf dem Fensterbrett ist der Zauber-Lautsprecher zu sehen, darüber werden wir bald reden, unter L10 (Laute, Lautsprecher, Lehnen).  


Es hat mir auch in diesem Jahr großen Spaß gemacht, für euch und für mich das alles zu schreiben. In diesem Sinne. Euch Frohe Weihnachten!
 

K56 - Krone, Kroninsignien

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Krone. Zuerst dachte ich: das ist doch Quatsch mit den Rangkronen, das sieht ja so aus, als wären es militärische Ränge. Aber mitnichten, die Liste ist völlig komplett. Allerdings gilt die ganze hier gezeigte Angelegenheit nur für das Heilige Römische Reich. Wenn der Reif mit Hermelin überzogen ist, dann handelt es sich nicht um eine Krone, sondern um einen Hut wie hier der Kurfürstenhut und der Fürstenhut. Und wenn man wie Wilhelm II. deutscher Kaiser war, dann war man ja auch preußischer König und konnte seine Kronen abwechselnd tragen. Seine Königskrone (sieht aus wie hier abgebildet) liegt im Schloß Hohenzollern. Ursprünglich waren 142 Diamanten, 18 Brillanten und einige Saphire verarbeitet. Tatsächlich aber haben die Hohenzollern fast alle Steine rausgefriemelt, verkauft und durch Strass ersetzt. Ihr seid mir schöne Thronfolger. – Das ist aber längst nicht alles, was so alles mit Kronen passieren kann. Die irischen Kronjuwelen sind seit 1907 verschollen. Es war ungefähr 1980, als ich in der Zeitung las, die Sonderkommission zur Aufklärung des Diebstahls habe sich aufgelöst. Nach mehr als 70 Jahren. Es war also möglich, sein ganzes Berufsleben als Polizist dieser Sondereinheit zu verbringen und nichts, nichts zu erreichen. Keine Ahnung, wie diese Einheit hieß. Sysiphos Squad? Es geht aber noch doller. Fragt mal die Österreicher, wo die Kaiserkrone von Kaiserin Zita geblieben ist. Verklüngelt? Genau. Wikipedia berichtet, zum letztenmal sei sie 1925 während eines Gelages auf dem Kopf des sturzbesoffenen Baron Steiners gesehen worden. „Seither ist die Krone verschollen“, vermerkt Wikipedia knapp. Die Deutschen, die Iren und die Österreicher sind damit eindeutig die Kronenverlierer Europas.



Kroninsignien.- Der berühmteste Stein in der Kaiserkrone war der außergewöhnliche „Waise“, der als Leitstein und Inbegriff des Kaisertums galt. Walter von der Vogelweyde schrieb über ihn, Albertus Magnus beschrieb ihn als blaßrosa Stein. Und na klar, ihr könnt es euch doch schon denken. „Seit Mitte des 14. Jahrhunderts wird der Waise nicht mehr erwähnt“, gibt Wikipedia zerknirscht zu. Ganz einfach verklüngelt. - Die Heilige Lanze soll tatsächlich ein Lanzenstück von der Kreuzigung Christi enthalten. Angeblich soll ihr Eigentümer unbesiegbar sein. Ja, und wer ließ sie dann kurz Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Nürnberg bringen? Natürlich Adolf Hitler. Sie hat ihm ja toll geholfen, diese Lanze. Allerdings gab es noch drei weitere Heilige Lanzen, die echt sein sollten. Davon sind, klar, zwei verschwunden und verschollen. Und auch Hitlers Lanze ist um ein Haar verloren gegangen. Ein Soldat fand sie nach dem Krieg in einem Bergwerksstollen. Leute, paßt doch mal besser auf eure Klamotten auf!

K57 - Krückstock, Kruke etc.

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Krückstock. Da fällt mir etwas ein: im Jahr 1946 erhielten meine Großeltern Besuch von einem englischen Offizier. Mir ist entfallen, worum es bei diesem Besuch ging, es war nichts Offizielles (mein Opa war Bäcker) noch irgendetwas Naziartiges („1933 hab ich SPD gewählt!“). Wie auch immer, als der Offizier ging, vergaß er seinen Stock. Es war nicht ganz ein Krückstock wie hier abgebildet, sondern eher ein Spazierstock. Mittelbraun, aus Bambus. Er hatte ihn aus Südostasien nach Dortmund mitgebracht. Der Spazierstock wurde natürlich aufbewahrt, denn meine Großeltern rechneten damit, daß bald jemand zum Stockabholen käme. Und was passiert, wenn man sich mit den Engländern anlegt, das hatte man ja gerade frisch erlebt. Die Zeit verging. Es kam aber niemand. Der Stock wurde einer der Gegenstände, denen man nicht allzuviel Beachtung schenkt, aber die man auch nicht wegwirft (oder verklüngelt wie eine Krone, siehe K56). Lange Jahre stand er im Keller in einer Ecke. – Aber wie auch immer, Captain AllisterMacFitzroy oder wie Sie auch immer geheißen haben mögen: jetzt will ich es auch noch einmal per Internet inserieren. Wir haben Ihren Bambusstock. Aber nehmen Sie ihn bitte uns nicht weg. Mein Papa ist nicht gut zu Fuß und benutzt ihn seither regelmäßig. Man kann auch sagen, der Stock kommt gerade in seinen dritten Frühling, nach der Zeit in Burma, danach in der Britischen Zone und jetzt im 21. Jahrhundert.



Kruke. Eine Kruke ist keine Schnapsflasche, sondern ein Apothekergefäß (da fällt mir ein, daß dieses kleine Blog mit Albarello auch mit einem Apothekertöpfchen beginnt, der allererste Eintrag, A11). Entscheidend ist bei Kruken die Beschriftung: Schwarze Schrift auf weißem Grund: das sind die normalen Sachen mit dem schönen Namen Indifferentia. Rote Schrift auf weißem Grund bedeutet, dieser Stoff ist vorsichtig zu behandeln und wegzuschließen. Diese Stoffe heißen Separanda. Und weiße Schrift auf schwarzem Grund, das sind dann die Gifte. Sie heißen sehr hübsch: Venena.



Krulle. Das ist ein wirklich außerordentlich seltenes Wort. Da mußte ich schon das gesamte Internet schütteln, bis die Krulle unten rausfiel. Es handelt sich um eine Halskrause. Die Krulle war im 16. Jahrhundert kurzfristig ein superheißer Scheiß, bis man dann europaweit feststellte, daß das Ding völlig unpraktisch ist. Danach war es weg vom Fenster, bis auf die einsame Ausnahme der Niederlanden, wo es sich noch jahrhundertelang gehalten hat. Das können sie, die Holländer: Halskrausen und WM-Finale verlieren.



Krümmling. Vielleicht nicht ideal gezeichnet, ich dachte erst, es sein ein Stück Pflanze. Ein Krümmling ist aber eine Rundung in einem Treppengeländer. Das hatten wir früher auch zuhause, sogar eine schöne 90 Grad-Krümmung. Verblüffend nur, daß es dafür ein Wort gibt. Krümmling. Er ging die Treppe hoch und griff an den Krümmling.


K58 - Küche

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Küche. Oh, ein schönes Wimmelbild. Und ungewöhnlich für den Brockhaus die obere Beschriftung – „hier: kochen und anrichten“ und „hier: zurichten und spülen“. Aber jetzt erkläre mir jemand mal den Unterschied zwischen anrichten und zurichten? Ist zurichten die Vorstufe zum Spülen? Also Essensreste in den Abfalleimer usf. Hm. Weder Duden noch Wahrig noch Mackensen geben Auskunft über Sonderbedeutungen des Zurichtens für das Vorspülgewerbe. Über den Herd haben wir schon ausführlich gesprochen (H18), aber gehen wir mal weiter durch die Küche. So eine Waage hatten wir damals auch. Die Einstellung ist völlig anders als bei heutigen Waagen und funktioniert nach dem Hebelprinzip: ein großes Gewicht wird unten eingeklinkt, und dann mit einem Schieberegler die Feintarierung. Dann schüttet man oben das Mehl ein, bis sich der Hebel hebt und ein Metallzeiger bis zur seinem fest angebrachten Gegenstück an der Waage sich gegenübersteht. Das fand ich faszinierend, und das Hebelprinzip habe ich auch so gelernt. Hm, aber wie geht dann Tarawiegen? Hm, bei Ebay gibt’s ein bildhübsches Exemplar. -  So einen Boiler kenne ich auch nicht aus der Küche. Übrigens sind die Illustrationen aus den Brockkäusern von 1944 und 1974 völlig anders. Die Ausgabe von 1974 hat einen „Kochwasserautomat“, so ein Teil hatten wir auch. Man dreht an einem Hahn und der an der Wand angebrachte Kasten läuft voll. Dann einen Knopf drücken und das Wasser wird per Spirale zum Kochen gebracht. Irgendwann kam ein Genie dann auf die Idee, den Wasserkocher nicht mehr fest an die Wand zu dübeln, und seitdem kommt der Berg zum Propheten. Schön auch die Zusatzgeräte: der Toaster ist ein Klappgerät. Offenbar waren damals Heizwendeln kompliziert herzustellen. Bei diesem Modell muß man nämlich das Brot umdrehen und von der anderen Seite noch einmal rösten. Die Kaffeemaschine ist natürlich super umständlich. Ist das nicht eher eine Mokka-Maschine? – Skurill auch die Backhaube. Das hab ich ja noch nie gesehen, so ein Ding. Es ist offenbar ein elektrischer Mini-Backofen für Kuchen. Den gibt es allerdings nur noch antiquarisch. Neue Modelle sind für den Herd oder Ofen. Ich vermute, das war in der Übergangszeit zwischen Kohle- und Elektroofen mal interessant. So, mal durchgeschaut, was ich von den anderen Küchengeräten habe: Schöpflöffel, Rührlöffel, Hackbrett, Fischlöffel, Reibeisen, Nudelholz, Wassermaß, Durchschlag. – Wenn ich ehrlich bin: die ganze Illustrations sieht ganz schön nach Manufactum aus. Und ganz schön viel Foodblog-Content in der Mitte des Alphabets. Aber gut, vorletzte Woche hatten wir immerhin Kronjuwelen.

Update. Ich konnte dann doch nicht wiederstehen. Eine schöne alte Küchenwaage von Stube. Mit zwei Gewichtsläufern. Wenn das Gewicht erreicht ist, schwingt die Waage gravitätisch ins Gleichgewicht. Ich hab es überprüft, das Wiegen geht tatsächlich sehr genau. Unglaublich der gute Erhaltungszustand des schönen Stückes. 
 
Stube  Küchenwage. Made in W.-Germany


K59 - Kuchen

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Kuchen. Ohje. Letzte Woche hatte ich schon die Befürchtung, diese kleine Seite entwickelt sich langsam zum Foodblog. Ich kann aber auch nichts dafür, wenn nach K58 Küche jetzt K59 Kuchen kommt. Hieße Kuchen anders, z.B. Flapp, dann stände er zwischen F22 Film und F39 Friedhof. Aber gut, wollen wir mal loslegen. Mitte oben: Kreppel sagt mir nichts. In der Brockhausausgabe von 1975 heißt es Kröppel, sagt mir auch nichts. Hier sieht es aus wie Bruchgebäck. Laut Wikipedia ist es eine alternative Bezeichnung für Berliner Pfannkuchen. Die in Westfalen natürlich nur Berliner heißen. In Berlin bestellt man Pfannkuchen. Wenn man in Westfalen Pfannkuchen bestellt, bekommt man einen Pfannkuchen. Warum die Berliner in Berlin nicht Berliner heißen, war mir immer ein Rätsel. Die Hamburger heißen in Hamburg ja auch Hamburger und nicht Fleischklopse. – In der Mitte: DIE Stolle? Merkwürdig. Aber im Wörterbuch der Gebrüder Grimm taucht der Stollen auch als die Stolle auf und ist erklärt als „semmel von länglich dicker, im durchschnitt ein wenig kantiger gestalt“. Echt komisch, wie schnell die Sachen ihr grammatikalisches Geschlecht wechseln. Obwohl ich für Stollen das männliche Geschlecht besser finde. Er ist halt kein Mädchenkuchen wie die Gugelhupf. – Eine Kuriosität am Rande ist, daß das Nudelholz sowohl bei K58-Küche als auch bei K59-Kuchen auftaucht. – Jetzt aber noch etwas anderes. Kürzlich stand ich der Gemäldegalerie vor Quinten Massys Thronender Madonna. Massys ist so eine Art belgischer da Vinci. Ungewöhnlich an dem Bild ist, daß Maria ihren Jesus herzlich abküßt. Neben sich auf dem Tisch liegen Kirschen, ein Apfel, Brot und ein seltsames Gebäck. Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Oder eine extrem verunglückte Ananas, die Massys nur aus Erzählungen kannte? Gar eine Milchpumpe aus dem 16. Jahrhundert? Gefuttert hat Jesus doch bestimmt, Gottes Sohn hin oder her. Ich hab das Ding fotografiert.
   




Quinten Massys: Thronende Madonna, 1525 (Thron und Madonna nicht im Bild)


So, und das sieht ja fast haargenau aus wie auf unserem Brockhaus-Bild. Wie diese Noppen daran kommen, ich weiß es nicht. Ich kenne Baumkuchen ja nur in Reifen. Bei dem Berliner Baumkuchenspezialisten Buchwald sehen die Baumkuchen auch ringförmig aus. Ich habe mal sorgfältig recherchiert. Baumkuchen mit solchen Noppen gibt es in Salzwedel, das ist nördlich von Magdeburg. Buchwald hingegen schreibt, er backe nach Cottbusser Art. Merkwürdig ist auch, daß man 1525 schon weiße Schokolade kannte. Ich war bisher sogar der Ansicht, sie ist erst Anfang der 70er erfunden worden. Seltsam. Der Baumkuchen ist übrigens der einzige Kuchen, den man von oben nach unten quer schneidet. Das senkrechte Schneiden gilt in Baumkuchenconnaisseurkreisen als unverzeihliches Sakrileg. Das wußte ich auch noch nicht. Oh, Kuchenhunger bekommen.

So, jetzt müßt ihr mir nur noch sagen, was eine Kuchenbürste ist. Eine Bürste für die Krümel?



K29 - Kleidung - Großes Extraposting zur Halbzeit

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So, liebe Leute, wir sind halb durch. 400 von 800 Seiten. Für diese Gelegenheit habe ich mir ein besonderes Lemma aufgehoben - die Kleidung. - Ich hoffe, Ihr lest weiter gerne hier, auch in der zweiten Hälfte.
 
Kleidung. Ich hatte ja schon erzählt, mir die Brockhäuser von 1944 und 1974 beschafft zu haben. Kleidung ist hier ein Lemma, bei dem völlig neue Illustrationen erstellt wurden. Allerdings fürchte ich, daß der Brockhaus prinzipiell zu langsam war für die Illustration aktueller Mode. Die 1974er Männer haben alle Hosen im Karottenstil, unten schmal zulaufend. Da ist der Brockhaus aber schon wieder altmodisch, weil 1974 die Schlaghose ihre Weltherrschaft schon angetreten hatte. Die Illustrationen sind alle großartig. Man weiß gar nicht, wo man hingucken soll!

Ich fand Modegeschichte immer sehr interessant. Es gibt wohl kaum einen Bereich, in dem Kontingenz und Notwendigkeit so intensiv ineinander verschränkt sind. Seltsam ist ja, daß man in der Gegenwart die Mode für ganz natürlich, zwangläufig und anders gar nicht möglich sieht, und die komischen Moden immer Moden der Vergangenheit sind. Derzeit sind die Hosenbeine wieder sehr schmal. Das kommt uns so vor, als sei das ein Naturgesetz und gar nicht anders möglich. In einigen Jahren werden wir schreien: Iiih, was für Hosenbeine, das ist ja voll Zehner!

Aber zurück zu den Illustrationen. Seltsam der Regenumhang für die Dame von 1944 (3. Reihe links). Das habe ich vorher noch nie gesehen. Eine Agraffe (2. Reihe, 4. Von links) ist ein Haken zum Verschließen. Der Strandanzug von 1944 hat noch eine Marlene-Dietrich-artige Grandezza. Und der Hosenrock darüber, den finde ich ganz schick. Wann kommt das mal wieder in Mode?

Und dann die Männer. Da 1944 der Militärangehörige mit Breeches auf (zweite Reihe). Einen Gehrock gibt es nur in der Version von 1944. Das Kavaliertuch heißt 1952 auch noch Kavaliertuch, danach Ziertuch. Ich habe nicht herausbekommen können, warum es überhaupt Kavaliertuch hieß. Eventuell, weil man damit der Dame etwas Rotze aus dem Gesicht wischen könnte, als echter Kavalier? Und Wahnsinn, es hat Sockenhalter gegeben, selbst noch in der Ausgabe von 1974. Heute gibt’s Socken im Abo. Und Stopfen tut ja wohl niemand mehr, wenn sie beschädigt sind. Socken to go. Ich habe eine Tüte mit Waisensocken. Immer nach der großen Sockenwäsche bleiben 5-6 Unikate übrig, die ich dann mit der Waisensockentüte abgleiche. In der Regel gibt es dann 2-3 Treffer, die sich dann weinend vor Wiedersehensfreude in die Arme fallen (Hm. Bei Socken ist die Formulierung „sich weinend in die Arme fallen“ ein leicht schiefes Bild). Die Nichttreffer kommen dann wieder ihrerseits in die Waisensockentüte. Ich glaube, es ist ok, auch gegenüber seinen Socken ein gewisses Drohpotenzial aufzubauen. Entweder ihr pariert und riecht gut, oder ihr kommt ins Heim.

Und die Bademode. Männer haben zweiteilige Badeanzüge, auch in der Version von 1952. In der Ausgabe von 1974 ist die männliche Badekleidung leider weggelassen. Badeoberteile gibt es für Männer jedenfalls nicht mehr. Wir hatten das kürzlich mal, bei der Badekappe (K9): auch sie ist verloren gegangen. Möglicherweise ist es auch eine perspektivische Täuschung, da man im Brockhaus immer so viele Gegenstände, die ganze Kultur, nebeneinander wie in einem gigantischen KaDeWe sieht, aber es scheint mir fast, die Welt ist viel einfacher geworden. Ich fahre öfter zur Krummen Lanke zum Schwimmen. Da badet jeder umstandslos nackt, angezogen, mit Badehose, wie auch immer. Vor Jahren hätte es noch eine FKK-Zone geben müssen. Jetzt ist das alles völlig egal. Den Bikini gibt’s auch erst im Brockhaus von 1974. Es wechseln sich ja in den letzten Jahrzehnten immer Bikinizeitalter und Badeanzugsepochen miteinander ab. Ich glaube, 2015 wird das letzte Jahr eines Bikinizeitalters. Gut so. Ich bin eher ein Badeanzugaficionado.

Es tun sich aber auch Rätsel auf: was im Himmelswillen ist ein „Shorty“ (1974, Frauen, 2. Reihe, 3. von rechts). Und 1944, Männer, was macht man denn in einer „Überfallhose“ (1. Reihe mitte)? Wäre 1944 nicht eine "Rückzugshose" passender gewesen. 

Auch aussterbend: der Schlafanzug. Zumindest kann ich mich nicht mehr entsinnen, den letzten Schlafanzug besessen zu haben. In der Gegend, aus der ich stamme, sagt man dazu "Schlawwanzuch". Und das versteht ihr gewiß, daß ich nicht gerne einen Schlawwanzuch anziehen würde. 

Geradezu abenteuerlich ist die Karriere des "Cachenez" (1944 Männer, 2. Reihe von unten Mitte). Zunächst war es ein Tuch, das den oberen Teil des Kopfes bedeckte bis unter die Nase, mit Augenschlitzen. Dann ist es nach unten gewandert und bezeichnete ein Tuch, das die untere Gesichtshälfte bedeckt. Im Grunde sind die Pali-Tücher auch Cacheneze. Wikipedia behauptet, das Wort sei jetzt auf weiße Seidenschals übergesprungen, die zum Gesellschaftsanzug getragen werden. Ein Gesellschaftsanzug ist das Gegenteil von einem Schlawwanzuch.

Und warum gibt es eigentlich keinen Muff mehr? Ich finde das schick und vornehm (für Frauen). Ich lese gerade nach, man habe 1959 eine Befragung dazu durchgeführt. Nur 17% der  Frauen besaßen damals noch einen Muff, also gab es damals schon 83% Muffmuffel. Von heute brauchen wir gar nicht mal sprechen. Obwohl es bei amazon seitenlang Muffe gibt, sogar beheizbar. Wahrscheinlich gibt es sie auch mit iPhone-Fach. Frauen, kauft euch Muffen!

 
1944 - Männer

1944 - Frauen

 


1952 - Frauen

1952 - Männer
 
1974 - Männer

1974 - Frauen


L02 - Lage

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Lage. Nach allerlei Essen und Kuchen werden wir heute endlich mal wieder ernsthaft undwissenschaftlich. Es geht um die Lokaladverbien und Lokalpräpositionen, die hier bunt durcheinanderstehen. Lokaladverbien sind hinten, vorn, oben, unten, links, recht, jenseits, diesseits. Lokalpräpositionen sind vor, hinter, in, aus, auf, an, neben, zwischen, über, auf, unter, jenseits und diesseits. Es gibt allein 107 statische Lokaladverbien. Ich finde es jedesmal faszinierend, in den Maschinenraum der Sprache zu steigen und nachzuschauen, wie das alles funktioniert. Die Zylinderkopfdichtungen, das Hinterraddifferential, das Planetengetriebe und die Kurbelwelle. Adverbien und Präpositionen sind ein wenig wie Schrauben, mit denen der ganze Klumpatsch zusammengehalten wird. Und damit man die Zündkerzen nicht verkehrt reindreht, zeigen Wechselpräpositionen durch den Kasus an, ob sie statisch oder dynamisch sind. Wir fahren in den Wald. Wir küssen uns im Wald. Sehr heißer Scheiß sind die Lokalpräpositionen bei Ländernamen: hat das Land einen festen Artikel, dann heißt es in, sonst nach. Wir fahren nach Frankreich und dann in die Schweiz. Und dann fliegen wir nach Iran und in den Iran.



Drollig in der Illustration die Würfel. Aber besser kann man es auch nicht zeichnen. Sogar die Würfelzahlen sind korrekt.



Interessant, daß das Lokaladverb „Hier“ fehlt. Ich denke, das ist schwer zu zeichnen. Man hätte einen Beobachter zeichnen müssen, und aus seiner Sicht das Hier eintragen und das Dort. Zumindest bislang haben wir noch keinen sichtbaren Beobachter in den Brockhaus-Illustrationen gehabt. Das ist wohl auch ziemlich selten in der bildenden Kunst geschehen, mir fallen da van Eyck und natürlich Velasquez ein. Auf Hier kann man sich genau so wie Jetzt (Temporaladverb) auch überhaupt nicht verlassen, genau so wenig wie auf rechts, links, hinten, vorn undsoweiter. Kaum dreht man sich um, ist schon alles anders. Jetzt ist zwar immer, aber immer auch schon vorbei. Oder wie es Hegel auf seine unnachahmlich fluffige Art ausdrückte: „Diese reine Unmittelbarkeit geht also das Anderssein des Hier als Baum, welches in ein Hier, das Nichtbaum ist, das Anderssein des Jetzt als Tages, das in ein Jetzt, das Nacht ist, übergeht, oder ein anderes Ich, dem etwas anderes Gegenstand ist, nichts mehr an.“



Ja, die Lage ist unübersichtlich.

L13 - Leuchter, Leuchtturm

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Leuchter. Der hier abgebildete Wandleuchter ist ein sogenannter Blaker. Bei der Illustration zu Lampe ist er etwas genauer gezeichnet. Die Hinterplatte ist aus Messing, um das Licht zu reflektieren. So sparte man sich die zweite Kerze und schützte die Wand. Meine Güte, wie umständlich das Leben damals war. Heute haben die Wandleuchter Java implementiert und es gibt eine App dafür. – Ich frage mich, wo eigentlich unser alter Kronleuchter beziehungsweise Wohnzimmerlampe geblieben ist. Sie hatte längliche, leicht konische Glaskörper, die auf Messingarmen saßen. Er war acht- oder zehnflammig, daran kann ich mich nicht mehr so recht erinnern. Aber bingo – er ist auf einem einzigen Foto drauf, zusammen mit meinem Vater, zwei Onkeln, einer Tante, einer Erdbeertorte, einer Butterkremtorte und einer Käsesahne. Es waren acht Flammen. Ein Schalter befeuerte vier Birnen, der andere Schalter direkt daneben die anderen vier. Ich hab dann verbotenerweise die Schalter so schnell wie möglich abwechselnd gedrückt, um eine Flickerflackershow zu erzeugen. Käsesahne und Kronleuchterflickerflacker, damit haben wir uns die Zeit vertrieben damals. – Armleuchter war zu meinem Lebzeiten schon eine altertümliche Verfluchung. Armleuchter fluchten Vollbremser in ihrem Ford Taunus, wenn ihnen im „7. Sinn“ die Vorfahrt genommen wurde. Wikipedia vermutet, es handle sich um ein „Verschleierungswort“ aus dem Bereich des Militärs, um eben nicht Arschloch zu sagen. Verschleierungswort, das ist ja super. Scheibenkleister fällt mir noch ein. Gibt es das auch mit anderen Flüchen? Spaßvogel statt Spasti? Hustinettenbär statt Hurensohn? Hm.



Leuchtturm. Der  Leuchtturm auf der Illustration  sieht natürlich sehr nach Roter Sand aus. Wir sind ja immer nach Holland gefahren in den Ferien. Da gibt es einen schönen Leuchtturm. Wenn man in der Dunkelheit am Strand spazieren geht, kann man das Feuer („Vuurtoren“) gut sehen. Was ich überhaupt nicht wußte: jeder Leuchtturm leuchtet nicht einfach so herum, sondern hat eine Kennung, sozusagen eine Art Morse-Markierung, mit der man ihn erkennen kann. Mein holländischer Leuchtturm macht zwei weiße Lichtblitze in 10 Sekunden-Takt, das ist dann die Kennung FL(2) W 10s. In einem Leuchtfeuerverzeichnis kann man dann nachgucken, wo man denn ist. Roter Sand hatte zum BeispielF. w/r/gn. 9/7/6s. Mir kommt das alles sehr altmodisch vor, aber das hat was, gefällt mir. Ich hatte noch nie davon gehört. Der Rote Sand steht ja mitten in der Nordsee. Von 1885 bis 1964 war er durchgehen von zwei Leuchtturmwächtern besetzt. Eine Ablösung kam alle acht Wochen. Es gibt Jobs, die sind leichter. Als kleinster deutscher Leuchtturm gilt übrigens das Hamburger Leuchtfeuer Bunthaus. Es ist sieben Meter hoch. Gut, wer einen HSV in der Stadt hat, der hat auch sieben Meter hohe Leuchttürme.





L14 – Libelle, Licht etc.

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Libelle. Libellen heißen noch gar nicht so lange Libellen. Der Name wurde von Carl von Linne eingeführt, und erst 1950 hat man entdeckt, wo er ihn eigentlich herhat, nämlich aus einem naturgeschichtlichen Werk von Guillaume Rondelet von 1558. Dort schreibt der Autor, der Körperbau einer Libelle ähnle der des Hammerhais (Libella). Was? Ein Hai? Wo denn? Wie denn? Da hat die Libelle wahrscheinlich Glück gehabt, nicht Flugkarpfen zu heißen. Vorher hieß sie übrigens Wasserjungfer. Es gibt mehr als 5.000 Arten. Auf der Homepage der Gesellschaft deutschsprachiger Odonatologen heißt es, die Fertigstellung des Verbreitungsatlasses sei 2013 zu erwarten. Von wegen. Eine einzige Musterseite haben sie jetzt nach sechs Jahren. Das letzte Projekttreffen war im Herbst 2011. Odonatologen, jedenfalls deutschsprachige, sind offenbar etwas lahmarschig. Oder sie haben nicht daran gedacht, daß die Libellen andauernd wegfliegen.



Levkojen. Und wieder Carl von Linne. Eigentlich hatte er geplant, die Blume Matthiola zu nennen (vermutlich ist das eine Heringsart), aber das hat sich nur als lateinischer Gattungsname durchgesetzt. Erinnert mich aber an die Fernsehserie „Jauche und Levkojen“ aus den Siebzigern. Dann gab es noch den Nachfolger „Nirgendwo ist Poenichen“. Beide waren stinklangweilig. Die Familie von Quindt aus Pommern, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gähn gähn. Es ist wohl noch nie so langweilig vor den Russen geflohen worden. „Fangt endlich an, Crystal Meth zu kochen!“ hätte man ihnen zurufen wollen.



Licht. Das Prisma zerlegt Sonnenlicht bekanntlich in die Spektralfarben. Newton nannte (wie Brockhaus) sieben, aber Indigo (benannt nach dem Indigofisch) wurde später mit Blau zusammengelegt. Es gibt also nur noch sechs Spektralfarben. Womit wir bei dem Riesendurcheinander der Farbnamen verschiedener Völker wären. Im südlichen Afrika und Papua-Neuguinea unterscheidet man zum Beispiel nicht Grün und Blau. Also, um es genau zu fassen: es ist nicht so, daß da einfach ein Wort fehlt (wie im Deutschen das Gegenteil von durstig), sondern Grün und Blau sind dort einfach dieselben Farben. Aber es geht auch andersherum. Etwa die Italiener, für die azzuro und blu zwei völlig unterschiedliche Farben sind. Magenta gibt es im Deutschen erst seit der Telekom. Und Pink ist das Rosa der jungen Menschen. Zum erstenmal richtig aufgefallen sind diese Merkwürdigkeiten 1867 einem Forscher namens Lazarus Geiger, der die Bibel, die Veden, die alten Griechen systematisch auswertete und feststellte, daß es damals nicht weit her war mit den Farbnamen. Vor allem – und das ist wirklich bemerkenswert, ist in der Bibel der Himmel an keiner einzigen Stelle, also niemals: blau. Erstaunlich.

L15 L16 – Lichtbild und Lichtbild-Geräte

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So eine Klappkamera habe ich auch noch, leider nicht mehr funktionstüchtig. Sie hatte auch den Compurverschluß, den man am Objektiv noch einmal separat spannen muß. Außerdem kann ich mir gar nicht vorstellen, dafür noch Filme zu bekommen. Die Fotografie ist ja einer dieser Komplexe, die durch die Digitalisierung wohl am meisten umgestülpt wurde. Deshalb sind hier alle Gegenstände museal. Ich vergleiche es mal mit einem anderen technisch-ökonomischen System, der Musik: Hier wie dort ist die Hardware handlicher, mobiler, speicherfähiger und billiger geworden. Der wichtige Unterschied ist aber, daß wir bei der Musik nur als Konsumenten (und Kopierer) auftreten. Fotos machen wir selbst. Und vor allem viel mehr. In der vordigitalen Zeit gab es Jahre, in denen ich kein einziges Foto gemacht habe. Ich habe meinen Fotoordner gerade durchgezählt: pro Jahr mache ich deutlich mehr als 1.000 Fotos.









Angeblich hat die Menschheit bislang 3,5 Billionen Fotos aufgenommen. Zu Brockhaus-Zeiten wurden ungefähr 3 Milliarden Fotos pro Jahr aufgenommen. Heute sind es deutlich mehr als 400 Milliarden pro Jahr. Das bedeutet auch, dass ungefähr 10% aller jemals aufgenommen Fotos aus den letzten 12 Monaten stammen. Wahrscheinlich sind es überwiegend Selfies. Auch komisch: der Begriff Selfie hat erst seit ca. 2012 Karriere gemacht. Aber ein Selfie konnte man auch schon 1970 mit einer Kodak Instamatic machen. Hat man aber nicht.



Etwas anderes: es ist ein uns näheres Zeitalter, wenn es schon Fotos aus jener Zeit gibt, also vor allem seit der vorletzten Jahrhundertwende. Alles, was davor liegt, ist optisches Paläozoikum. Deshalb oft auch irritierend, wenn man Aufnahmen aus der Frühzeit der Fotografie betrachtet, etwa aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Es existiert auch ein Foto von Mozarts Witwe – und das ist seltsam anzuschauen, denn Mozart ist eindeutig aus der Vor-Foto-Zeit, aus der Zeit von Zeichnung, Gemälde und Lithografie. Deshalb scheint Constanze Mozart auf diesem Foto wie eine Zeitreisende, sehr merkwürdig.



Und noch etwas anderes: früher war das Foto, abgesehen von den immer etwas komischen Dia-Fotografen, immer zuerst als Papierexemplar vorhanden. Nicht zufällig bedeutet das Wort Foto sowohl die eigentliche Aufnahme als auch die physische Reproduktion. Nun ist Papier nicht nur geduldig, sondern auch äußerst langlebig. Und so findet Elinor Richter jeden Sonntag für ihr wundervolles Projekt „Found“ alte Schwarzweißfotografien in einer Flohmarktkiste, die durch welche Fügung auch immer Jahrzehnte überdauert haben, die sie anschließend digitalisiert und ins Flickr stellt.





 

Dornröschenfoto, jahrzehntelang schlafend, jetzt wieder digital erweckt.
Quelle: Elinor Richter, Found


Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß heutiges privates Digitales so langlebig ist. Ich habe mal in meinem Fotoordner nachgeschaut; es sind ca. 7.500 Fotos (weit mehr als ich dachte). Sie sind ein paar Mal von Festplatte zu Festplatte zu USB umgezogen. Aber wird dieser Stick irgendwann einmal in einer Flohmarkkiste liegen? Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Es ist eher zu vermuten, daß es in 20 Jahren extrem schwierig ist, überhaupt noch einen USB-Stick auszulesen. Ich glaube, ich hab auch noch einige gescannte Fotos auf 3,5“-Disketten. Tja. Mittlerweile habe ich aber schon mal Abzüge gemacht von ein paar schönen Fotos: meine Mutter am Herd beim Rouladenkochen, das Kriegerdenkmal im Herbstlicht, Umarmung auf dem See, das Theater in voller Opernbeleuchtung. Wie könnte man das nennen? Re-Analogisierung oder Re-Physikalisierung? Ich bewahre die Aufnahmen achtlos in Fototaschen gesteckt im Bücherregal auf, weil ich hoffe, so genau den richtigen Abflugwinkel zu treffen, den das Schicksal von Gegenständen für den Flug in Flohmarktkisten vorgesehen hat. Im Jahr 2070 werden sie dann von Elinors Enkelinnen in einer solchen Kiste gefunden. Aber gut möglich, daß Flohmarkt dann schon eine App ist.



Vor einiger Zeit habe ich mich  mal auf Foto-Blogs umgesehen (die übrigens zu 90% von jungen Frauen mit teilweise viel Talent und Mühe gepflegt werden. Junge Männer daddeln offenbar lieber auf der Playstation oder bohren in der Nase. Bücher lesen ja auch nur noch Frauen. In 20 Jahren sind die Männer komplett abgehängt. Aber ok so.) Auf diesen Foto-Blogs ist jedenfalls plötzlich analoge Fotografie der neueste heiße Scheiß. Die jungen Damen sind vor allem begeistert, daß man auf das Ergebnis so lange warten muß. „Film entwickeln“ – weird! Bemerkenswertersweise sehen die Ergebnisse meist tatsächlich eher nach 1975 als nach 2015 aus, als würde die Kamera lieber die Zeit ihrer Herstellung fotografieren. Man muß sich das noch einmal vorbuchstabieren: Mädchen, die um die Jahrtausendwende geboren sind, fotografieren mit 50 Jahre alter Ausrüstung die Gegenwart, lassen sie analog entwickeln und Abzüge auf Papier produzieren. Anschließend digitalisieren sie das Ergebnis und reproduzieren es im Internet, und es sieht aus wie die Vorvergangenheit ihrer Urheberinnen. Puh. Der Inhalt eines Mediums ist ein anderes Medium, äh.



Ja, und dann müßt ihr auch „den Film vollknipsen“. Wie damals eure Mama, nach dem Italien-Urlaub. Und natürlich die Frage, „ob die Fotos was geworden sind.“ Und in 40 Jahren, da werdet ihr in Flohmarktkisten nach meinen Fotos kramen.








L17 - Linde, Lilie etc.

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Linde. Die Linde wäre ein sympathischer, netter und vielbesungener Baum. Wenn es nicht den Honigtau gäbe. Auf meiner Jogging-Strecke an der TU stehen einige Linden, und wenn ich Frühjahr da vorbei laufe, bleibe ich fast mit den Schuhen dort kleben. Ebenfalls ist es eine doofe Idee, sein Auto dann unter einer Linde zu parken. Botanisch ist Honigtau der Kot von Blattläusen. Oftmals halten sich Ameisen die Blattläuse wie Milchkühe und ernten den Honigtau ab. Dann macht bitte mal euren Job etwas sorgfältiger, ihr doofen Ameisenbauern.



Lilie. Überhaupt gar nichts kann man aber gegen die Lilie haben. Linné (wie immer) hat sie beschrieben, aber so recht wollte die Menschheit nichts mit ihr anfangen. Dann Auftritt von Henry John Elwes. Er war nicht einmal Botaniker, sondern ein Amateur, der ein schönes Blumenbuch machen wollte und die Fachleute mit seinem Lilien-Blog so lange nervte, bis sie ihm Beiträge schickten. Und so erschien ab 1877 Monograph of The Genus Lilium (was für ein Titel!) in sieben wunderbar illustrierten Bänden. Der letzte Ergänzungsband kam erst 1962 heraus. Unglaublich, daß Elwes gleich darauf noch ein neues botanisches Buchprojekt ins Leben rief: Trees of Great Britain and Ireland, ebenfalls sieben Bände, von 1900 bis 1913. Es gilt bis heute als Standardwerk.



Lineal. Sehr hübsch finde ich das Kurvenlineal. Es ist ein sogenanntes Burmester-Kurvenlineal, das übrigens auch beim Schneidern Verwendung findet, etwa um Ärmelansätze auszuschneiden. Ein kompletter mathematischer Satz von Kurvenlinealen umfaßt sage und schreibe 28 Stück. Ich habe allerdings Abitur gemacht, ohne jemals ein Kurvenlineal in der Hand gehabt zu haben. Wir hatten nur ein Geodreieck, das wir mit Superkleber auf den Tisch geklebt haben, das es garantiert nicht mehr abging, und ein kleines Parabellineal. Nicht Parabell-Ineal, sondern Parabel-Lineal. Genau, mit dem konnte man die x²-Kurve zeichnen. Sonst konnte das Ding nichts. Nicht 2x², nicht x³. Ich fand die Beschränkung auf so einen schmalen Zweck sehr merkwürdig. Als hätte man einen Schraubenzieher, mit dem man ausschließlich drei Zentimeter lange Kreuzschlitzschrauben drehen könnte. Oder ein Auto, das nur nach Bielefeld fährt.

L21 - Looping, Lorbeer

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Looping. Der Looping ist ein Scheinanglizismus wie Handy und Oldtimer. Im Englischen heißt es Loop. Was ich nicht gedacht hätte: man weiß, wer den ersten Looping gemacht und wann. Es war der russische Pilot Pjotr Nikolajewitsch Nesterow, und zwar am 9. September 1913. Es dürfte ein komisches Gefühl gewesen sein für ihn, und dann sich zu denken: ich mach das jetzt einfach mal. Dabei galt im Westen der bekannte Schauflieger Adolphe Pégoud lange als erster Loopist, aber er war ganze 12 Tage später dran. Immerhin war Pégoud der erste Mensch, der mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug absprang. Bemerkenswert: es war natürlich ein Einsitzer. Bei den ersten Fallschirmabsprüngen waren die Flugzeuge nachher hinüber. Nesterow hingegen hat eine weitere Pioniertat auf dem Konto: er gilt als erster Kamikazepilot der Luftfahrt, indem er ein anderes Flugzeug rammte und zusammen mit ihm abstürzte. Leider hatte er nicht den Fallschirm von Pégoud dabei, sonst wäre das ja noch irgendwie gut gegangen.

Lorbeer. Der Lorbeer heißt botanisch Echter Lorbeer. Womit klar ist, daß es auch Falschen Lorbeer gibt. Das ist die Lorbeerkirsche. Der falsche Lorbeer ist ein richtiges Miststück. Die Früchte sehen aus wie echte Lorbeeren, die man in die Sülze und zu den Gurken tut. Das sollte man beim falschen Lorbeer lieber nicht tun, da die Früchte Samen enthalten, die im Magen Blausäure abgeben. Eine Sorte heißt „Green Survial“ und ist extrem winterhart. – So wie es sehe, hatten wir weder echten noch falschen Lorbeer im Garten. So ein giftiges Zeug hätte meine Mutter niemals geduldet. Apropos Garten. Ich hab noch kürzlich Fotos gesehen, wie mein Vater und ich einen Apfelbaum fällen und ausgraben. Der Baum trug nach fünfzehn Jahren Geduld immer noch winzig kleine, lorbeergroße Äpfel, die man noch nicht einmal zu Mus verarbeiten konnte. Auf den Fotos arbeiten wir mit Kettensäge (mein Vater) und Spitzhacke (ich), und es war wirklich ein hartnäckiger Baum. Ich war 20 Jahre alt und hatte einen Hut auf, den ich mir von ihm geliehen hatte. Wahrscheinlich kann man nur so erwachsen werden: keinen Baum pflanzen, sondern einen Baum fällen, zusammen mit seinem Vater, und mit einem Hut von ihm. Genau. Danke Papa.

L22 – Löten, Lotto

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Löten. Da gibt es viele Kindheitserinnerungen. Mein Vater war Amateurfunker, und hat sich Taschengeld mit der Reparatur von Volksempfängern verdient. Dann hat er sich seine ersten Funkgeräte selber zusammengebaut. Und dann kann man auch irgendwann löten. Er versuchte, es auch mir beizubringen, aber ich wußte nicht einmal, wofür die Widerstände (braun mit farbigen Ringen), Kondensatoren (kleine silberne Zylinder) überhaupt gut sein sollten. Beim Entfernen eines dieser Teile gab es eine besondere Technik, das Lötzinn mit dem Kolben aufzunehmen und in einer raschen Handbewegung nach unten abzutropfen. Manchesmal landete das auf dem Boden der Funkbude und gab einen daumennagelgroßen, sehr flachen Flatschen. Überhaupt Lötzinn. Da mir stets die Schwerter meiner Plastikritter verloren gingen, habe ich das Ende eines Stücks Lötzinns plattgehämmert und hatte damit ein leidliches Ersatz-Notung, allerdings weich wie Butter. – Das Löten mit dem Lötrohr war schon zur Brockhauszeit eher außer Gebrauch, zumal man dafür sehr genau und dosiert pusten mußte. Die große Zeit des Lötrohrs war für eine andere Anwendung. Man bläst damit ein glühendes Stück Material (z.B. ein Mineral) an und erhält die Oxidationsflamme, welche Rückschlüsse auf die Beschaffenheit ziehen läßt. Das ganze fällt in den schönen Bereich der sog. Probierkunst.



Lotto. Das hier abgebildete Lotto hat überhaupt nichts mit der Lotterie zu tun, sondern ist ein Gesellschaftsspiel, das völlig zu recht in Vergessenheit geraten ist. Auf der obigen Lottokarte sind drei Reihen mit jeweils neun Fächern. Schon fertig sind jeweils fünf Zahlen eingedruckt, in der ersten Spalte unter 10, in derzweiten die Zehner, in der dritten die Zwanziger etc. Dann werden Nummernsteine gezogen, und hat ein Spieler die Zahl, wird der Nummernstein daraufgelegt. Wenn einer eine komplette Reihe hat, dann hat er gewonnen. So, und wofür ist das Glasblättchen? Ich weiß es nicht. Das Internet auch nicht. Diese Spiele werden noch manchmal angeboten, dann mit 80 Glasblättchen, aber nirgendwo finde ich, wozu sie dienen. Wirnennen das mal das Lottoglasrätsel. Zuschriften willkommen. Ich bin mal gespannt, ob ich es vor Ablauf des Projektes herausfinde. Wahrscheinlich finde ich eher die irischen Kronjuwelen (K56).

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Detail zu Lotto:


Unten ein kompetenter Kommentar zu der Glasplättchenfrage. Allerdings gibt es doch etwas Unklarheit, weshalb ich die Illustration noch einmal vergrößere: hier sieht man, daß Nummernsteine auf die Lottokarte gelegt sind. Oder ich gucke verkehrt.


L24 - Luftschiff

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Luftschiff. Tolle Illustration, tolles Thema. Ich wäre um ein Haar mal mit so einem Ding geflogen. Ich hatte mit acht oder neun Jahren an einem Preisausschreiben teilgenommen. Der Hauptgewinner wurde auf einem Bierfest gezogen. Und das war ich. Ich durfte mit dem Wicküler-Luftschiff fliegen. Und dann? Ich habe Schiß bekommen und stattdessen lieber den Trostpreis genommen, ein Gesellschaftsspiel. Die anderen Zuschauer haben mich ausgelacht. Ich Trottel. Ich wäre der einzige aus meiner Klasse gewesen, der jemals Zeppelin gefahren wäre. Ach, Klasse. Der einzige von der Schule! Aus dem Stadtbezirk!



Besonders verdient gemacht um den Luftschiffbau hat sich die Firma Zeppelin, so daß der Firmenname zum Synonym für Luftschiffe geworden ist. Es wurden LZ 1 bis LZ 131 gebaut bis zum Anfang des Zweiten Weltkriegs. Die Füllung von Luftschiffen nennt man Traggas. Zuerst hat man Wasserstoff genommen. Das ist schön leicht und einfach herzustellen, hat aber einen klitzekleinen Nachteil: es ist leicht entzündlich. Das mußten auch die Passagiere der LZ 129 Hindenburg am 6. Mai 1937 feststellen. Es war die Mutter aller Luftschiffunglücke. Erst letztes Jahr ist mit 92 Jahren der letzte Überlebende gestorben, der ehemalige Kabinenjunge Werner Franz. Er war aus dem Fenster gesprungen und blieb zwar unverletzt, aber laut Wikipedia ein Leben lang traumatisiert.



Ein Leben lang traumatisiert. Ja, da sieht man es ja. Es war wahrscheinlich klug und umsichtig von mir, damals nicht den Luftschiff-Flug mitzumachen, habe ich mir oft eingeredet. Brennendes Traggas etc. . Das Trost-Brettspiel war übrigens ziemlich doof. Man mußte mit kleinen Eisengußzeppelinen durch Nordrhein-Westfalen fliegen und dabei Plastikscheiben einsammeln.



Der Luftschiffergruß ist „Glück ab“, also das Gegenteil des Bergmanngrußes „Glück auf“, was natürlich völlig logisch ist, weil der eine will ja heil auf, der andere heil ab. 368 Postsendungen haben übrigens das Hindenburg Unglück überstanden und sind unter Philatelisten Unsummen wert, gerade wenn sie etwas angekokelt sind. Dieses Teilgebiet nennt sich übrigens „Aerophilatelie“. Aerophilatelisten sind Leute, die nicht fliegen, wenn sie könnten, sondern lieber eine Briefmarke haben wollen oder ein Brettspiel. Und jedesmal, wenn ich ein Wickülerbier trinke (was nicht allzu oft vorkommt), spüre ich den kleinen Stich meines damaligen Zeppelinversagens. Vielleicht hätte mich der Flug damals völlig verändert. Ich wäre Elitepilot geworden. Oder hätte Düsenluftschiffe erfunden. Und würde jetzt hier nicht sitzen mit einer Flasche Wicküler für 69 Cent. Es wäre deutlich übertrieben, daß ich ebenfalls lebenslang traumatisiert bin wie Werner Franz, aber trotzdem.



Ist Euch mal auf Baggern und Baumaschinen die Aufschrift „Zeppelin“ aufgefallen? „Zeppelin Baumaschinen“ ist tatsächlich die Nachfolgefirma von „Zeppelin Zeppeline“. Seltsam eigentlich, von den eleganten Zeppelinen auf unförmige Bagger umzusteigen. Das wäre ungefähr so, als würde man sich mit dem Geld der erfolgreichen Ballettkarriere einen Schlachthof kaufen: „Semionova Koteletts“. Aber ein bißchen Luftschiff-DNA steckt damit in jedem Zeppelinbagger. Ein klein wenig Schwerelosigkeit, Eleganz und Schweben. Achtet mal drauf, wenn sie abends auf den Baustellen stehen, ihre Schaufel gedreht in den Sonnenuntergang.

L 25 – Lünette und sehr viel mehr

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Lünette. Selten eine Illustration gehabt, in der mir alle Lemmata rätselhaft sind. Wenn es euch ähnlich geht, lernen wir heute richtig was. – Die Lünette kenne ich aus dem unerschöpflichen Werkzeugschrank meines Papas. Ich hätte es „Einspannding“ genannt und dafür ist es auch da, ein Einspannding für Drehmaschinen.



Lunker. Lunker sind unerwünschte Hohlräume hauptsächlich in der Metallgußtechnik. Man muß hier natürlich an Glocken denken, bei denen Lunker den Ton verändern würde. Extrem unbeliebt, diese Lunker, bei den Jungs aus den Stahlwerken. Deshalb wird ein Blindspeiser eingesetzt und nachher abgehauen. Das ist dann der „Verlorene Kopf“, rechts in der Illustration beschriftet. Der Verlorene Kopf ist also kein Fachbegriff der Psychatrie oder Hinrichtungstechnologie, sondern stammt aus der Gießereitechnik.  Gebt zu: das wußtet ihr auch noch nicht.



Lupine. Die Lupine ist ein Cousine von Erbse und Erdnuß (sieht man ja auch an der Frucht). Wohingegen Erbsen und Erdnüsse in unvorstellbaren Mengen gefuttert werden, sind Lupinen die Aschenputtel der Hülsenfrüchte. Vielleicht schmecken sie ja auch übel. In den letzten Jahren machen die Lupinensamen allerdings eine kleine Karriere, was am Vegantrend liegt. Möglich, daß es bald Lupinenpaste gibt, Lupinensalat und Lupinenpizza. Broccoli ist ja auch irgendwann vom Himmel gefallen, und den mag ich auch nicht.



Lure. Ich dachte erst: oh, etwas Biologisches, so eine Art Samenzelle. Von wegen. Die Lure ist ein Blasinstrument. Sie wurden aus Bronze hergestellt und ausschließlich – na, klar: in der Bronzezeit benutzt. Seitdem sind sie sozusagen die Lupinen der Blasinstrumente. Aber wer weiß, vielleicht schreibt einer mal ein Lurenkonzert oder John Zorn nimmt 10 Platten (seine Monatsproduktion) mit Luren auf. Wenn sie so klingt wie sie aussieht, dann ist das aber auch alles nur Lupinensalat.



Luzerne. Noch eine Hülsenfrucht. Im Gegensatz zur Lupine ist sie aber stets in großen Mengen angebaut worden, weil Pferde und Rinder sie gerne mögen. Aber nur die. Und ein merkwürdiges Detail: die blauen Luzernenblüten werden ausschließlich von Hummeln angeflogen. Wespen und Bieten mögen sie nicht. Wenn ihr euch gern mit Pferden, Kühen, Hummeln umgeben wollt: dann pflanzt Lupinen.



Lyra. Seltsames L 25 – zwei Hülsenfrüchte, zwei Musikinstrumente. Wie hier abgebildet, ist die Lyra entweder das antike Zupfinstrument oder aber die sog. Kretische Lyra, das ist ein Streichinstrument und wird so ähnlich wie die Geige gespielt, aber ganz anders gehalten, nämlich senkrecht auf dem Knie. Ich hab mir ein paar Sachen auf youtube angehört. Die kretische Lyra klingt so wie Lupinenpizza schmeckt.



So, genug gelernt für heute!

P18 – Pistole, Plane etc.

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Aus aktuellem Anlaß hopse ich etwas voraus zu P 18. Der aktuelle Anlaß ist ein Interview mit dem Schriftsteller Paul Maar in der ZEIT. Darin berichtet Herr Maar, er habe als kleiner Junge sehr gerne immer in einem einzigen Buch gelesen, und sich die Abbildungen angeschaut. Ja, und was war das für ein Buch? Es war unser Sprach-Brockhaus. Allerdings eine Ausgabe von 1935. Ich habe Herrn Maar sofort angeschrieben, und er hat – ich meine, ok, wie soll es auch anders sein, daß Paul Maar nett ist – also er hat sehr nett geantwortet. Er schrieb mir, sogar ein Wachsflecken vom Lesen mit Kerze sei auf der Seite mit „Pistole und Revolver“ vorhanden, als er damals unter der Bettdecke gelesen habe. Ich habe die Seite mal herauskopiert – allerdings war da kein Revolver. Ich habe dann meine Ausgabe von 1944 hervorgeholt, und tatsächlich, offenbar ist der Brockhaus auch hier demilitarisiert worden.



Also, Herr Maar, hier nochmal ohne Kerzenflecken: Pistole und Revolver

 




Ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie es in der Brockhaus-Redaktion zugegangen sein mag. „Die kleine Browning lassen wir drin. Die anderen fliegen raus.“ „Ja, und was machen wir stattdessen?“ „Hm, irgendwas mit P. – Pi, Po, Pl…“ Natürlich haben sie sich wieder mit einem Eisenbahn-Lemma, der Plattform, helfen können. Aber „Plane“, das ist schon ein klein wenig schwach und wahrscheinlich nur durch Illustrationsnot zu erklären. 



Warum man die Browning hingegen unverändert übernommen hat, die Piroge hingegen neu gezeichnet hat – das bleibt wohl auch ewiges Brockhausrätsel. Damit wir wenigstens heute noch ein klein wenig lernen: es handelt sich nur um eine Piroge, wenn der Rumpf ein Einbaum ist. Er kann zwar durch Planken erhöht werden, aber die Basis muß ein ausgehöhlter Baumstamm sein.



R08 - Rechenschieber

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Heute mal etwas ganz anderes, ein superriesiges Megapost über ein einziges Thema. Aber was für eines!

Im Jahr 2015 ist die ganze Welt besetzt von digitalen Rechnern, Excel-Tabellen und intelligenten Speicherchips. Die Geräte, mit denen man sich sein Frühstück zubereitet (Toaster, Kaffeemaschine, Brettchen), sind deutlich intelligenter als ihre Benutzer, gerade am frühen Morgen. Ein Fahrradtacho hat mehr mehr Rechenleistung verbaut als die Apollo 11-Kapsel. Die eine Hälfe der Welt läuft auf iOS, die andere auf Android. Die Geräte beherrschen die ganze Welt, sie sind klug, und sie vergessen nichts. Die ganze Welt? Nein! Ein gar nicht mal so kleines Unternehmen aus Nürnberg in Mittelfranken beugt sich nicht. Das ist die Firma Faber-Castell. Die kennt ja jeder. Aber dazu kommen wir gleich.

Es geht heute um Rechenschieber. Die große Zeit der Rechenschieber war das letzte Jahrhundert, zwischen erstem Weltkrieg und den frühen Siebzigern. Dann kommen die ersten Taschenrechner auf den Markt. Binnen weniger Jahre wird der Markt pulverisiert. Man muß sich vorstellen, daß tatsächlich ein Rechenschieber bei der ersten Mondlandung mitgeflogen ist – als Backupsystem. Das wäre so, als würde sich heute Sebastian Vettel ein Klappfahrrad hinten in seinen Formel 1-Wagen packen. Der Rechenschieber fällt also in die Brockhaus-Zeit. Ich bin sicher, der prozentuale Aufschlag auf die Kosten eines Brockhaus-Bands wurde mit dem Rechenschieber berechnet. Wie denn auch anders? Es sind wunderschöne Geräte, ein schlagender Beweis menschlichen Erfindungsreichtum.

In Deutschland gab es vor allem drei führende Hersteller von Rechenschiebern: Aristo, Nestler und Faber-Castell. Aristo war der Firmenname von Dehnert & Pape aus Hamburg. Nach dem schnellen Ende der Rechenschieber wurden die Reste der Produktion an rotring übergeben. Es gibt auch heute noch Aristo-Geodreiecke und ähnliches. Aber natürlich keine Rechenschieber mehr. Die Firma Nestler aus dem Schwarzwald schleppte sich mit CAD-Technik noch bis in die Neunziger, um sich dann auch auszuhauchen. Es gibt am selben Ort noch ein namensgleiches Unternehmen, das Wellpappe herstellt. Meinen ersten Rechenschieber hat mir mein Vater geschenkt, ein kleiner Nestler 123 aus seiner Schreibtischschublade. Er hatte mir auch gezeigt, wie man ihn benutzt, aber ich habe das sofort vergessen, weil es mir auch viel zu kompliziert war. Schließlich war ich schon Generation Taschenrechner.

Ich möchte wenigstens ganz knapp versuchen zu erklären, wie Rechenschieber funktionieren. Zunächst gibt es Skalen, die ganz einfach übereinanderstehen. Zum Beispiel die Quadratskala. Schiebe ich den Läufer auf 5, steht oben 25. Wurzelziehen ist natürlich genau umgekehrt. Die trigonometrischen Skalen funktionieren genauso. Addieren und subtrahieren geht überhaupt nicht mit dem Rechenschieber. Das eigentlich Interessante ist aber  Multiplizieren und Dividieren. Das funktioniert deshalb, weil die Skalen des Rechenschiebers logarithmisch skaliert sind. Bekanntlich ist das Produkt zweier Zahlen die Summe seiner Logarithmen. Das war dann der Ausgangspunkt einer genialen Idee: Mit zwei Linealen 4 und 2 zu addieren, heißt ja einfach nur, 2cm und 4cm hintereinanderzulegen. Genau das macht der Rechenschieber. Nur kommt nicht 6 als Summe heraus, sondern man kann an der logarithmischen Skala 8 als Produkt beider Zahlen ablesen.


Also, den Anfang (C-Skala, „1“) auf 2 stellen. 4 abmessen auf der C-Skala, das heißt dann = log 2+ log 4 = 4 mal 2 = 8, und das steht unten auf der weißen D-Skala


Am Beispiel sieht man auch sofort, daß Dividieren genau umgedreht funktioniert: Die 8 und 4 übereinander stellen, und dann kann man auf dem Skalenanfang 2 ablesen. Der Rechenschieber gibt nie Stellen an (also ob das Ergebnis 0.2, 2 oder 20 ist), deshalb muß man vorher interpolieren, was ungefähr rauskommt. Auch beim Wurzelziehen muß man etwas achtgeben, weil die Wurzel aus 900 keinesfalls das Zehnfache der Wurzel aus 90 ist. Desweiteren hat ein 25cm-Stab eine Genauigkeit von 4 Stellen – aber nur, wenn man ein Adlerauge hat und vorher die letzte Stelle im Kopf ermittelt – also 48 mal 68, da kann schon ablesen, daß das Ergebnis mehr als 3260 ist; aber die 4 als letzte korrekte Stelle muß man eben kurz vorher ausrechnen. Man sollte also bei der Benutzung des Rechenschiebers kein vollendeter Mathetrottel sein.

Und es ist schön, mit diesen Skalen zu rechnen. Es ist keine binäre Turingmaschine, sondern zwei gegenseitig versetzte Skalen, die man abzulesen hat. Und schließlich muß noch eine Exegese erfolgen: sowohl die Anzahl der Stellen als auch die letzte Stelle muß hinzuinterpretiert werden. Vielleicht so wie der Unterschied, entweder eine Zeichnung anzufertigen oder ein Foto zu knipsen.

Ihr wißt ja, daß ihr hier nie Links bekommt. Aber wer mal Lust hat, das  mit den Rechenschiebern auszuprobieren, möge Aristo Multilog 970 Simulator in seine Rechenmaschine eingeben. Schön gemachter Simulator, ein guter Stab Typ Darmstadt, mit sieben Logarithmen-Skalen auf der Rückseite, also durchaus schon ein verschärftes Teil.

Womit wir beim dritten Hersteller angekommen wären. Faber-Castell. Die gibt es noch immer. Man kennt sie von den Farbstiften. Sie haben eine Fabrikanlage, die 1,5 Milliarden Farbstifte pro Jahr herstellt. Das heißt, in fünf Jahren könnte Faber-Castell so viel davon herstellen, um jeden Erdenbürger mit einem Buntstift auszustatten. Das würde die Welt wahrscheinlich besser machen.

Die Rechenschieberproduktion wurde ebenfalls Anfang der Siebziger eingestellt. Aber jetzt das Unglaubliche: sie haben noch immer Lagerbestände. Man kann im Faber-Castell-Onlineshop fabrikneue Rechenschieber bestellen. Fabrikneu bedeutet, sie sind noch nie benutzt worden, aber sie liegen schon einige Zeit herum, klar. Der Online-Shop von Faber-Castell ist cool und ganz klar 21. Jahrhundert mit allem Schnickschnack. Sich registrieren mit Double-Opt-In. Rechenschieber in den in den Warenkorb. Zur Kasse über den HTTPS-Server. Mit der Mastercard-Schnittstelle Verifikationscodes via SMS austauschen. Bestellung abschließen. In Lichtgeschwindigkeit bimmelt eine Bestätigungs-Email ein. Und dann, sieben Minuten später, die Versandbestätigung. Nicht schlecht.

Und zwei Tage später erhalte ich drei Rechenschieber, die bis zu 50 Jahre im Lager vorrätig gehalten wurden. Das ist ungefähr so, als würde ich einen chromblitzenden, nagelneuen Borgward Isabella bei amazon bestellen. Ich finde das seltsam aus der Welt gefallen. Ich meine, in dieser google-amazon-shareholder value-Welt noch Rechenschieber zu verkaufen, das zeugt von Mut. Das ist Grandezza! Faber-Castell ist also ein Unternehmen, das ihre wunderschönen Rechenschieber nicht einfach wegschreddert, sondern sie sorgfältig aufbewahrt und noch Jahrzehnte später verkauft. Nicht ganz günstig, muß man dazu sagen. Wahrscheinlich kichern aber die Rechenschieber in den Nürnberger Regalen hämisch vor sich hin, daß Taschenrechner mittlerweile für ein paar Cent im Pennymarkt verramscht werden und die eigentlich kein Mensch mehr braucht. Meine iphone-Taschenrechner-App zieht die Wurzel aus 2 mit 15 Stellen. Taschenrechner, wofür bitte?

Außerdem muß dort in Nürnberg die merkwürdigste Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart herrschen. Ich stelle mir vor, wie sie bei Faber-Castell in einem großen Kontor sitzen, an langen Birnbaumholztischen. Rollschränke, Schreibtischunterlagen, Telephonapparate. Herr Maier zieht gerade seine Ärmelschoner zurecht und greift nach der Löschwiege. Aber direkt neben ihm sitzt Herr Schmidt, der gerade ein Java Enterprise Edition 7 Update auf den Webserver des Onlineshops aufspielt, der in der Ecke sanft vor sich hinschnurrt wie eine Ofenkatze. Und die nette Frau Schaklies, mit der ich einige Emails austauschte. Sie arbeitet in der Abteilung „Customer Care“. Aber das ist wahrscheinlich nur Tarnung nach außen, und im Unternehmen heißt die Abteilung einfach „Verkauf“. Sie sitzt einige Reihen weiter und ißt gerade ein Käsebrötchen. So geht das zu bei Faber-Castell, denke ich mir.

So, jetzt biege ich endlich ab zu meinem Rechenschieber-Haul:

Zuerst der 111/87 Rietz, ein typischer Mittelklasse-Stab mit 25cm Länge. Läufer und Zunge gehen butterweich. Auf dem Läufer ist noch eine kw-PS-Umrechnung untergebracht. Der Opel Rekord der Rechenschieber. Übrigens hat Faber-Castell auch noch die originalen Verpackungen und Gebrauchsleitungen. Wunderschön.

111/87 Rietz. Sehr schick auch das Etui



Dann den „Disponent“ 1/22. Das ist ein kaufmännischer Rechenstab, auch der älteste Stab, zum Teil aus Holz. Er hat eine Seitenskala, und da ist tatsächlich die Umrechnung 1 englisches £ = 20 Shilling = 240 Pence untergebracht. Diese alte britische Stückelung wurde 1971 abgeschafft. Und ich hab sie auf meinem Rechenstab. Es gibt hinsichtlich der Skalen einige Besonderheiten, sodass ich die Anleitung komplett durchgearbeitet habe. Man staunt Bauklötze, wie tricky die Rechenwege sind. Und was in dem Stab alles noch verbaut ist. Direkte Umrechnung des russischen Längenmaßes Arschin (0,71m). Kein Problem mit dem Faber-Castell 1/22 Disponent.

Britannia rules the waves ruler

Der Faber-Castell 2/83N. Der Mercedes Flügeltürer unter den Rechenstäben. Selbst Cliff Stoll, der vor einigen Jahren einen interessanten Fachartikel in SCIENCE über Rechenschieber geschrieben hat („When Slide Rulers Ruled“), räumt dem 2/83 N gegenüber ein, er sei vielleicht “the finest and most beautiful slide rule ever made”. Er hat auch als nahezu einziger Rechenschieber die legendäre W-Skala, mit der sich die Genauigkeit noch einmal verdoppelte. Aber natürlich: 30 Skalen. Das ist dann schon sehr überfeinert. Rechenschieber-Rokoko. Wie auch immer: wenn ich drei Wünsche freihätte für Hilfsmittel für alle Abenteuer der Welt, dann wären das der Henrystutzen, also das sagenhafte Gewehr bei Karl May, dann Nothung, das Zauberschwert in den Nibelungen, und der Faber-Castell 2/83N Novo Duplex.




Faber-Castell 2/83N Vorderseite. Schönheit.




Beim 2/83N fehlt vielleicht nur noch eine einzige Skala, für die Berechnung des Lebens, des Universums und des Rests. Sie würde natürlich immer 42 anzeigen.

M1 - Madonna, Magisches Quadrat

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Madonna. Die zweitschönste Madonna, finde ich, ist die Sixtinische Madonna. Man muß sie aber im Original sehen. Selten ein Gemälde, bei dem Reproduktion und Original so weit auseinanderklaffen. Es ist zum einen sehr groß, über zweieinhalb Meter hoch, und zum anderen schwebt Maria tatsächlich auf den Wolken, das ist wirklich unglaublich. Zwar stehen immer dreißig Japaner davor, aber zum Glück sind die alle klein, und die Madonna ist groß - das Gemälde es ist einfach überwältigend. - Die schönste Madonna aber hängt in der Berliner Gemäldegalerie, der Monforte-Altar von Hugo van der Goes. Es ist übrigens genau so breit wie die Sixtinische Madonna hoch. Und es wäre so hoch wie die Sixtinische Madonna breit ist, wenn man nicht irgendwann die oberen zwei Engel abgesägt hätte. Die zwei Engel hat die Sixtinische Madonna ja an der Unterseite, ein berüchtigt süßliches Postkarten-Servietten-Geburtstagskarten-Motiv, das Raffael ruhig auch hätte weglassen können. Oder man könnte sie heraussägen. Wer weiß, wie kitschig die Engel von Van der Goes waren. Aber wenn ihr mal in Berlin seid, geht in die Gemäldegalerie, Saal 15. Nehmt euch eine Viertelstunde Zeit.


Lady Madonna (Hugo van der Goes, Ausschnitt)

 

Magisches Quadrat. Kennt man ja, Zeilen und Spalten ergeben immer dieselbe Zahl, und ich dachte, das ist DAS magische Quadrat. Von wegen. In der 4x4 Form gibt es 880 magische Quadrate. Wikipedia kennt dann noch das „Vollkommen perfekte magische Quadrat“ mit allerlei Zusatzbedingungen wie z.B. , daß die vier Quadranten auch dieselbe Zahl ergeben müssen. Einmalig? Leider nicht, davon gibt es 384 Stück. Na super. Wahrscheinlich ist es schwieriger, ein unmagisches Quadrat zu zeichnen. - Das Pentragramm hat im 20. Jahrhundert erheblich Karriere gemacht, allerdings in eher zweifelhaften Zusammenhängen. Eine Organisation, die das Pentragramm als Symbol wählt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Sprung in der Schüssel. Nehmen wir mal als Beispiel die Church of Satan, von Anton LeVey 1966 in San Franciso gegründet. Sie hat das umgekehrte Pentagramm als Logo. Die Gruppe ist atheistisch, und für so eine Truppe ist es natürlich logisch, sich Church zu nennen, und dann noch Satan dazuzunehmen. Übrigens zählt auch Häßlichkeit in der Church of Satan zu den Todsünden. Die Church gibt es noch immer, und zwar in New York, und klar, mit Hauptsitz in Hell’s Kitchen. Nun gut. Ihre Webseite ist allerdings gerade nicht aufrufbar. Ist der Server im Höllenfeuer  verbrutzelt? Immerhin kann man anderswo die Elf Satanischen Regeln der Erde aufrufen. Wer sich jetzt das etwas Satanisches-Grausiges vorstellt, der wird enttäuscht sein. Etwa Regel 5, sie lautet: „Starte keine sexuellen Annäherungsversuche, außer du bekommst ein Signal dazu.“ Aha. Oder Regel 10: „Töte keine nicht-menschlichen Tiere, solange du nicht angegriffen wirst oder Essen brauchst.“ Das zieht sich so ein bißchen durch bei der Satanskirche: Mache dies oder das AUF KEINEN FALL, es sei denn, es ist echt voll nötig. Auch bei Regel 2: „Berichte anderen nicht von deinen Sorgen, es sei denn, du bist dir sicher, dass sie sie hören wollen.“ Ok. Das haben unsere Eltern doch auch immer gesagt. Waren sie etwa…? NEIN!
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